IT ist strategisch nicht mehr bedeutsam („IT doesn’t matter“) – so lautete die provokante These eines viel beachteten Artikels des US-Publizisten Nicolas Carr aus dem Harvard Business Review im Jahr 2003. Unternehmen gaben damals über die Hälfte ihrer gesamten Investitionen für ihre IT aus – häufig nach dem Gießkannenprinzip, ohne sich dadurch von anderen zu differenzieren. In einer Welt, in der Tools für jedes Unternehmen gleichermaßen verfügbar waren, böten sie keinen Vorteil im Wettbewerb, so die Argumentation. Der Autor empfahl, Investitionen besser in strategisch relevante Ressourcen zu lenken. In den Folgejahren lagerten viele Unternehmen ihre IT-Aktivitäten aus, weil sie diese nicht mehr als Teil des Kerngeschäftes betrachteten.
Ein neues Zeitalter
Beinahe 15 Jahre später stellt sich das anders dar. Heute, in der Ära der globalen Digitalisierung, gibt es zahlreiche Beispiele, die zeigen, wie wichtig IT tatsächlich ist: Entwicklungen wie die Cloud, das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz machen deutlich, dass die IT selbst (wieder) zu einer strategisch bedeutsamen Triebfeder für das Geschäft geworden ist. Das verändert die Art und Weise, wie Unternehmen ihren Kunden Produkte und Services anbieten. Beispiel industrielle Fertigung: Im Prototyping muss man Entwürfe für technologisch komplexe Produkte heute nicht mehr physisch fertigen, sondern kann sie mit Hilfe von Simulationen rein virtuell an jedem Ort auf dem Globus auf ihre Eigenschaften testen. Diesen Trend nutzt zum Beispiel das deutsche Startup SimScale. Die Gründer sahen, dass Produktdesigner in vielen Unternehmen sehr abgekoppelt vom Rest der Fertigung arbeiteten. Die SimScale-Plattform ist über einen regulären Webbrowser zugänglich. Auf diese Weise sind die Designer Teil eines Ökosystems, in dem die Funktionalitäten von Simulationen, Daten und Menschen zusammengebracht werden, damit sie schneller bessere Produkte entwickeln können.
Auch spielen Mehrwert-Services für Unternehmen, wie auch für ihre Kunden eine immer wichtigere Rolle. Mit „Kärcher Fleet“ beispielsweise, entwickelte der Reinigungstechnikhersteller Kärcher eine Cloud-Lösung für sein gesamtes Flottenmanagement. Dabei werden Daten über die Reinigungsgeräte an Kärcher übermittelt, wie z. B. zum Wartungs- und Ladungszustand, zu Einsatzzeiten und zum Standort der Maschinen. Der Mehrwert für Kunden: Autorisierte Nutzer können diese Daten einsehen, ihre Bestände so ortsübergreifend verwalten und den Wartungsprozess dadurch viel effizienter gestalten. Auch für Kärcher entsteht ein Mehrwert: Durch die Entwicklung dieses Dienstes bekommt das Unternehmen einen detaillierten Einblick, wie die Geräte beim Kunden tatsächlich genutzt werden. Dadurch wiederum kann Kärcher neue Erlöse über Abo-Modelle für sein Analyseportal generieren.
Mehr als nur Support
Diese Beispiele machen deutlich: Software dient heute nicht mehr allein der Unterstützung von Geschäftsprozessen, sondern ist zu einem wesentlichen Bestandteil in zahlreichen Unternehmensbereichen geworden. Das beginnt bei integrierten Plattformen, die alle Aktivitäten von der Marktanalyse über die Produktion bis hin zur Logistik steuern können. IT ist heute die Grundlage digitaler Geschäftsmodelle und übernimmt damit eine eigene wertschöpfende Rolle. Das zeigt sich, wenn z.B. Vertriebsmitarbeiter mit ihren Kunden in Online Shops oder über mobile Apps in Kontakt treten. Marketing-Spezialisten nutzen Big Data und künstliche Intelligenz, um mehr über die zukünftigen Bedürfnisse ihrer Kunden zu erfahren. Die traditionsreiche Modehauskette Breuninger hat dies erkannt und setzt auf eine eigenentwickelte E-Commerce Plattform in der AWS Cloud. Breuninger verwendet bei der Softwareentwicklung moderne Templates, wie beispielsweise Self-Contained Systems (SCS), um mit agilen und autonomen Teams die Geschwindigkeit der Softwareentwicklung zu erhöhen und neue Features schnell testen zu können. Jedes Team agiert nach dem Prinzip „You build it, you run it“, sie sind also für den produktiven Betrieb der Software selbst verantwortlich. Der Vorteil einer solchen Herangehensweise: Schon während neue Anwendungen entwickelt werden, steht ihre Handhabung mit im Fokus.
Wertschöpfung durch Daten
In einer digitalen Ökonomie stehen die Daten im Zentrum der Wertschöpfung, während physische Assets in den Geschäftsmodellen an Bedeutung verlieren. Bis 1992 waren im S&P 500 Index Unternehmen am höchsten bewertet, die physische Dinge fertigten oder vertrieben (z.B. Pharmaindustrie, Handel). Heute stehen Technologieentwickler (z.B. Medizintechnik, Software) und Plattformbetreiber (z.B. Social Media Enabler, Kreditkartenunternehmen) an der Spitze. Auch trägt der Handel mit Daten heute mehr zum globalen Wachstum bei als der Handel mit Gütern. In dieser Hinsicht ist IT strategisch so bedeutsam wie nie zuvor – nicht nur für uns, sondern für jedes Unternehmen im digitalen Zeitalter. Wer sein Unternehmen digital weiterentwickeln will, muss sich immer auch darüber Gedanken machen, welche Infrastruktur er braucht, welche Software oder welche Algorithmen nötig sind, um diese Pläne umzusetzen.
Wenn Daten im Zentrum stehen, müssen Unternehmen lernen, mit ihnen Mehrwerte zu generieren. Und zwar indem sie ihre eigenen Daten mit externen Datenquellen kombinieren und moderne, automatisierte Analyseprozesse verwenden. Basis dafür sind Software- und IT-Services, die über Programmierschnittstellen bereitgestellt werden.
Wollen Unternehmen erfolgreiche und innovative digitale Akteure sein, müssen sie bei der Entwicklung von Software-Lösungen besser werden. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir die „Produktion“ von Daten organisatorisch so aufbauen, dass sie uns einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Wir brauchen Mechanismen, die eine Art Massenverarbeitung von Daten mit Hilfe geeigneter Software und Hardware ermöglichen. Dazu müssen diese Mechanismen schlank, lückenlos und effektiv sein. Zugleich müssen wir sicherstellen, dass Qualitätsanforderungen eingehalten werden können. Das sind die gleichen Herausforderungen, die im Hinblick auf die Produktion physischer Güter schon in der Industrialisierung gelöst wurden. Um nun die Software-Entwicklung zu industrialisieren, muss ein Unternehmen Ideen entwickeln, dieses Prinzip der schlanken, aber qualitativ hochwertigen Massenproduktion aus der Industriefertigung auf den Software-Bereich zu übertragen. Dabei landet man zwangsläufig bei Lean Production-Ansätzen, wie Kanban und Kaizen oder Total Quality Management. Unternehmen wie Toyota revolutionierten in den 1980er Jahren ihren Produktionsprozess, indem sie die gesamte Organisation umkrempelten und auf ähnliche Prinzipien ausrichteten. Dafür die organisatorischen und IT-technischen Voraussetzungen zu schaffen, zählt zu den größten Herausforderungen, denen sich Unternehmen im digitalen Zeitalter stellen müssen.
Von „Lean“ lernen
Können wir dieses Erfolgsmodell auch auf IT übertragen? Die Antwort ist ja. Es ist in der digitalen Welt entscheidend, datenbasierte Prozesse in Gang zu bekommen und ständig zu verbessern. Hindernisse, die der Weiterentwicklung und dem Ausprobieren neuer Ideen im Weg stehen, gilt es möglichst schnell zu beseitigen. Jedes neue IT-Projekt ist eine Idee, die eine Art Daten-Fabrik durchlaufen muss; eine vollausgestattete Produktionsstätte mit einheitlichen Prozessen und einfacher Instandhaltung. Das Endprodukt dieser Daten-Fabrik sind hochwertige Dienste oder Algorithmen, die digitale Geschäftsmodelle unterstützen. Digitale Unternehmen differenzieren sich durch Ideen, Daten und Kundenbeziehungen. Wer am schnellsten ein funktionierendes digitales Geschäftsmodell findet, hat die Nase im Wettbewerb vorn. Vor allem die Barriere zwischen Softwareentwicklung und operativem Geschäft muss überwunden werden. Denn der Erfolg und die Schnelligkeit und Taktung dieser Experimente hängen von der Leistungsfähigkeit der IT-Entwicklung, dem Development ab – und gleichzeitig von der Relevanz der Lösungen für das operative Geschäft. Autoscout24, hat über seine Cloud-Lösung enorm an Agilität gewonnen. Dort arbeiten mittlerweile 15 autonome interdisziplinäre Teams ständig daran, neue Dienste zu testen und zu erkunden. Dabei geht es vor allem um die Möglichkeit, die Experimente schnell über verschiedenste Architekturen zu iterieren, Services miteinander zu kombinieren und Ansätze zu vergleichen.
Um derart agil zu werden wie Autoscout24, brauchen Unternehmen eine Art „Ideengenerierungsmaschine“ – warum also nicht das Erfolgsrezept der industriellen Fertigung und Grundsätze des Qualitätsmanagements auf die Erstellung von Software übertragen? Gerade deutsche Industrieunternehmen besitzen jahrzehntelange Fertigungskompetenz. Sie sollten ihr Möglichstes tun, dieses Wissen an allen relevanten Stellen erfolgreich auf ihre IT und insbesondere die Softwareentwicklung zu übertragen.
In vielen Unternehmen hat sich das interne IT-Knowhow in den vergangenen Jahren nicht schnell genug weiterentwickelt – im Gegensatz zu den technologischen Möglichkeiten. Kunden geben online sofort nach dem Kauf Feedback, Echtzeit-Analysen sind über Big Data möglich und über die Cloud werden täglich Software-Updates generiert. Die IT-Organisation und die damit verbundenen Prozesse konnten damit vielfach nicht Schritt halten. Das Ergebnis: Fachabteilungen sollen mit Strukturen von gestern die Kundenanforderungen von morgen erfüllen. Innovative Produkte und Services schnell auf den Markt zu bringen, ist mit langfristigen IT-Beschaffungszyklen nicht möglich. Kein Wunder, dass viele versuchen, die eigene IT-Abteilung zu umschiffen, indem sie zum Beispiel Aktivitäten in die Cloud verlagern, die eine Fülle von mächtigen IT-Bausteinen über einfach zu nutzende APIs anbieten, für die Unternehmen früher aufwändige Software und Infrastruktur betreiben mussten. Diese dezentralisierte „Schatten-IT“ bringt keine Verbesserung. Insgesamt erhöht sich dadurch die Komplexität im System, was nicht effizient ist. Dieses Muster gilt es zu durchbrechen. Development und Operations müssen Hand in Hand zusammenarbeiten, statt wie in der alten Welt – sequenziell hintereinander. Und das idealerweise in einer Vielzahl von Projekten parallel. Unter dem Stichwort DevOps – dies umschreibt die Kombination aus „Development“ und „Operations“ – hat IT Guru Gene Kim Grundpfeiler dieser Maschinerie beschrieben.
Den „Flow“ sichern
Kim argumentiert, dass die Organisation um den Kundennutzen gebaut werden und der Fluss von Projekten so reibungslos und optimal wie möglich gestaltet werden muss. Hürden, die dem Kundennutzen im Weg stehen, gilt es zu identifizieren und zu beseitigen. Das beginnt damit, grundsätzlich funktionsübergreifende und interdisziplinäre Teams zusammenzustellen. Auch sollten diese, um agil zu bleiben, eine bestimmte Größe nicht überschreiten. Bei uns gilt z.B. die Regel, dass Teams nur genau so groß sein dürfen, dass ihnen zwei (große!) Pizzen reichen, um satt zu werden. Eine solche Herangehensweise verringert die Anzahl der notwendigen Übergaben, erhöht die Verantwortung und ermöglicht den Teams, dem Kunden Software schneller bereitzustellen.
Feedback aufnehmen
Je früher Kundenfeedback in den “Produktionsprozess” einfließt, desto besser. Außerdem müssen Unternehmen sicherstellen, dass jegliches Feedback in allen Folgeprojekten Anwendung findet. Damit man sich nicht in unendlichen Feedbackschleifen verliert, muss das schlank organisiert sein: Das Einholen von Feedback interner und externer Stakeholder darf den Entwicklungsprozess an keiner Stelle hemmen.
Lernen, Risiken einzugehen
„Gute Absichten allein reichen nicht, man braucht gute Mechanismen, damit etwas geschieht”, sagt Jeff Bezos. Dazu gehört eine Unternehmenskultur, die Mitarbeiter lehrt, ständig zu experimentieren und zu liefern. Mit jeder neuen Iteration sollte man sich ein bisschen weiter nach vorne wagen als beim letzten Mal. Gleichzeitig brauchen wir in jedem Team Daten darüber, was die Experimente bewirken. Und wir müssen Mechanismen etablieren, die sofort greifen, wenn wir uns zu weit vorgewagt haben und etwas schiefgegangen ist, falls zum Beispiel eine Lösung überhaupt nicht beim Kunden angekommen ist.
Jeder, der sich schon einmal daran versucht hat, weiß, dass es nicht leicht ist, die digitale Revolution im eigenen Unternehmen anzustoßen und am Laufen zu halten.
P3 berät Mobilfunkanbieter und bietet seinen Kunden Zugang zu Daten, die Auskunft über die Qualität von Mobilfunknetzen (z.B. Feldstärke, abgebrochene Verbindungen und den Datendurchsatz) geben – weltweit und unabhängig von Netzbetreibern und Anbietern. Daraus leiten die Kunden beispielsweise Maßnahmen zum Ausbau ihrer Netze oder neue Angebote zur effizienteren Nutzung ihrer Kapazitäten ab. Durch die Einführung von DevOps-Tools definiert P3 einen automatisierten Prozess, der die benötigte Rechen-Infrastruktur in der AWS-Cloud umsetzt und projektspezifische Softwarepakete auf Knopfdruck zum Einsatz bringt. Darüber hinaus kann die Prozessdefinition jederzeit von Entwicklern, Businessverantwortlichen oder Datenexperten angepasst werden – z.B. um neue Regionen zu erschließen, Analysesoftware hinzuzufügen oder neue AWS-Dienste zu implementieren. P3 kann sich nun voll auf seine Kernkompetenz konzentrieren: die eigene Software. Datenexperten können ihre frei gewordenen Ressourcen nutzen, um die weltweit gesammelten Informationen in Echtzeit zu analysieren und ihren Kunden zur Verfügung zu stellen.
Die Cloud bietet der IT grenzenlose Möglichkeiten auf der technischen Seite. Daraus haben sich neue Chancen ergeben, aber immer deutlicher treten nun auch die Anforderungen zutage, um diese Möglichkeiten nutzbar zu machen. Denn Technologien verändern sich schneller als Menschen, und einzelne Menschen schneller als ganze Organisationen. Es ist ein strategisches Erfordernis, diese Herausforderungen anzugehen. Notwendiger Veränderungen auf den Weg zu bringen, ist der entscheidende Schritt, um digital die Nase vorn zu haben.
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