Matthias Seeger ist passionierter Wissenschaftler. Sein Fachgebiet ist die Künstliche Intelligenz (KI). Doch ihn treibt noch etwas um: Chancengleichheit. „Unsere internationalen Teams und auch mich persönlich beschäftigt, was man im angloamerikanischen Raum als „Democratization of AI“ bezeichnet. Also die Frage, wer überhaupt die Möglichkeiten und Ressourcen hat, KI zu nutzen und wer nicht. Die Kluft zwischen einigen finanz- und ressourcenstarken Unternehmen und dem Rest ist in den letzten Jahren ständig größer geworden. Wir möchten dazu beitragen, KI zu einem allgemein zugänglichen Gebrauchsgut zu machen, wie Wasser, Strom oder Breitbandinternet – erschwinglich und ohne unnötige Barrieren, sagt der 47-Jährige.
Doch wozu nutzen Firmen eigentlich KI? Bei vielen ruft der Begriff immer noch die Vorstellung von menschenähnlichen Robotern hervor, die Schach spielen, Quizfragen beantworten oder Hausarbeit erledigen. Dabei ist KI viel mehr als eine nette Spielerei und längst so gut wie überall zu finden: Sie steuert Fließbänder und selbstfahrende Autos, erfasst und übersetzt Geschriebenes und Gesprochenes, erkennt Objekte in Bildern, verbessert medizinische Diagnoseverfahren, sagt Kundennachfrage, Geschäftszahlen und Auslastung vorher. Intelligent sind diese Prozesse deshalb, weil sie Informationen nicht nur nach einem festen Schema verarbeiten, sondern auch aus ihnen für zukünftige Anwendungen lernen können. Deshalb werden automatische Übersetzungs- und Bilderkennungsprogramme immer besser und Voraussagen über das Kundenverhalten immer präziser.
Ein Autopilot für KI
Machine Learning (ML) heißt dieser Teilbereich der KI, an dem Matthias im Forschungs- und Entwicklungszentrum von Amazon in Berlin arbeitet. Er und ein elfköpfiges, internationales Amazon Team aus Wissenschaftler:innen in der angewandten Forschung wollen ML nicht nur weiterentwickeln, sondern auch den Zugang erleichtern. Denn ein ML-Modell zu programmieren ist aufwändig und teuer. Experten sind schwer zu finden, und nicht jedes Unternehmen, das zum Beispiel den eigenen Kundenservice oder die IT-Sicherheit mithilfe von ML verbessern möchte, kann Zeit, Geld und Fachleute dafür aufbringen. „Wir wollen, dass alle, egal ob Konzern oder Start-up, Machine-Learning-Modelle für ihre Geschäftstätigkeiten nutzen können, unabhängig von Größe, Budget und Wissensstand“, sagt Matthias.
Das Berliner Team gehört zu Amazons internationalem Cloud-Dienst AWS. Der Service, an dessen Entwicklung es beteiligt ist, heißt Amazon SageMaker. „IT-Fachleute, Softwarespezialist:innen oder Wirtschaftsanalytiker:innen können mithilfe dieses Dienstes sehr einfach eigene ML-Modelle erstellen. Entweder nutzen sie eine komplett fertige Anwendung, eine Art Autopilot, oder sie erhalten nur die Grundlagen von uns und bestimmen die individuellen Feinheiten selbst“, erklärt Matthias und veranschaulicht den Service am Beispiel einer digitalen Spiegelreflexkamera: „Da kann ich als Fotograf:in entweder das Vollautomatikprogramm einstellen, dann erledigt die Kamera Schärfe, Belichtung, Weißabgleich und alles andere für mich und ich konzentriere mich nur auf das Motiv. Oder ich wähle ein Teilautomatikprogramm und stelle zum Beispiel den Fokus selbst ein. Ähnlich funktionieren unsere Benutzeroberflächen, sogenannte Frameworks und Libraries, für Machine Learning.“
Nun geht es bei SageMaker nicht um Weißabgleich und Belichtung, sondern um Algorithmen. Also um die Handlungsanweisungen und Kriterien, nach denen die Maschine die Daten, mit denen sie gefüttert wird, bewertet, gewichtet, verarbeitet und letztlich aus ihnen lernt. Je besser die Algorithmen voreingestellt sind, desto robuster, verlässlicher und effizienter funktioniert die ML-Anwendung. „Der AWS-Kunde Sportograf, ein digitaler Fotoservice für Sportveranstaltungen, nutzt SageMaker, um Fotos automatisch und fast in Echtzeit nach den Startnummern der Sportler:innen zu sortieren. Das kleine Unternehmen kann so über Nacht mehr als eine Million Bilder den richtigen Personen zuordnen, ohne die benötigte Rechenkapazität selbst bereitstellen zu müssen.“, so Matthias.
KI für mehr Nachhaltigkeit
Künstliche Intelligenz für alle: Für Matthias ist das nicht nur ein Schritt hin zu mehr Fairness, sondern auch ein Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit. Und zwar in zweifacher Hinsicht: „Erstens arbeitet ein System am energieeffizientesten, wenn es einfach, schnell und zuverlässig funktioniert. Wir stellen unsere Algorithmen so ein, dass sie möglichst wenig Serverleistung beanspruchen, also Energie sparen“, erklärt Matthias. Zweitens trägt KI in der gesamten Wertschöpfungskette zu mehr Effizienz und Nachhaltigkeit bei. „Wenn man die Kundennachfrage kennt, gibt es weniger Überproduktion. Wenn man Gebäude intelligent lüftet und beheizt, spart man Emissionen“, so der Wissenschaftler. „Der flächendeckende Einsatz von KI ist letztlich auch ein Beitrag zum Klimaschutz.“
Zur Person: Matthias Seeger arbeitet seit sieben Jahren als Principal Applied Scientist im Forschungs- und Entwicklungszentrum von Amazon in Berlin. Dort leitet er ein zu Amazon AWS zugehöriges Team aus internationalen Wissenschaftler:innen, das auf den Bereich Automatic Machine Learning spezialisiert ist. Zuvor war er unter anderem als Lehrbeauftragter an der Ecole polytechnique fédérale in Lausanne, Frankreich, und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in Tübingen tätig. Sein Studium der Informatik absolvierte er am Karlsruher Institut für Technologie und seinen PhD an der University of Edinburgh. Matthias lebt mit seiner Familie in Berlin.