Prof. Dr. Matthias Bethge ist wohl das, was man mit dem schönen, altmodischen Wort „Tausendsassa“ bezeichnen kann: Neurowissenschaftler, Uniprofessor, Gründer von zwei Startups und der Arbeitsgruppe Bethge Lab, Koordinator des Tübinger Bernstein-Zentrums für Computational Neuroscience, Leiter des Tübinger AI (Artificial Intelligence) Centers, Mitbegründer des Bundeswettbewerbs für Künstliche Intelligenz und Mitstreiter der ELLIS-Initiative. Zusätzlich heuerte er als Amazon Scholar an. Sich selbst bezeichnet Matthias lieber als „Protopian“. Was man darunter versteht und warum Unternehmen wie Amazon eine wichtige Rolle in der KI-Forschung spielen, hat er uns im Interview verraten.
Matthias, gibt es einen Überbegriff für deine verschiedenen Tätigkeiten und welche Fragen treiben dich in all diesen Positionen um?
Meine Forschung dreht sich um die Frage der Informationsverarbeitung im Gehirn, insbesondere um das Sehen und darum, wie die Welt in den Kopf kommt. Grob zusammengefasst heißt das, ich arbeite daran, dass Computer auf die gleiche Weise lernen wie Menschen: durch die Bildung von immer neuen – im Fall der Maschine künstlichen – Neuronenverbindungen bzw. durch die Verstärkung der Übertragung zwischen bereits verbundenen Neuronen.
Im letzten Jahrzehnt hat das Maschinelle Lernen sehr große Fortschritte bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz bewirkt. Die Forschung im Bereich Maschinelles Lernen ist nicht mehr auf prinzipielle akademische Überlegungen beschränkt, sondern hat begonnen, unsere Wirtschaft und Gesellschaft weltweit grundlegend zu verändern. Als Forscher auf diesem Gebiet fühle ich mich verpflichtet, mich um die gesellschaftlichen Auswirkungen meiner Forschung zu kümmern.
Wie schaffst du es, diese Auswirkungen im Blick zu behalten?
So etwas geht nicht allein. Dafür engagiere ich mich stark in der ELLIS-Initiative. ELLIS steht für „European Laboratory for Learning and Intelligent Systems“. Die Initiative wurde vor rund zwei Jahren gegründet. Mit dabei ist unter anderem mein geschätzter Amazon-Scholar-Kollege und Direktor des Tübinger Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme Bernhard Schölkopf und viele andere Spitzenforscher. Mit der ELLIS-Initiative versuchen wir, ein europäisches Ökosystem zu entwickeln, das die besten Talente nach Europa holt und ein Konzept sowie möglichst gute Bedingungen liefert, um innovative wissenschaftliche Teams, Startups und gemeinnützige Unternehmungen entstehen zu lassen. Europa muss bei der Schlüsseltechnologie der KI gegenüber Vorreitern wie den USA und China am Ball bleiben.
Sind Computer schon so gut im Lernen wie das menschliche Gehirn?
Nein. Das Gehirn ist viel besser darin, aus ganz wenigen Erfahrungen die richtigen Schlüsse zu ziehen, die weitreichende Verhaltensänderungen bewirken können. Das maschinelle Lernen benötigt in der Regel sehr große Datenmengen. Im Gegensatz zum Menschen kann ein Computer aber viel mehr Daten auswerten. Wenn große Datenmengen vorhanden sind, ist es daher schon heute möglich, dass Computer menschliche Leistungen übertreffen. Zusammen mit dem Neurowissenschaftler Peter Dayan (MPI für Biologische Kybernetik, Tübingen) und der Wissenschaftlerin Y-Lan Boureau (Facebook AI Research, New York) leite ich ein ELLIS-Fellowship-Programm, bei dem wir uns zwei Mal im Jahr mit führenden Forschern treffen, um neue Ideen auszutauschen, wie sich bisher unverstandene Aspekte der natürlichen Intelligenz künstlich nachbilden lassen.
Welche Aufgaben kann ein auf diese Art und Weise lernender Computer in der Praxis übernehmen? Kannst du uns ein paar Anwendungsbeispiele geben?
Besonders einfach funktionieren Mustererkennungsaufgaben. Also zum Beispiel Gesichter- oder Musikstückerkennung, medizinische Bilddiagnosen oder die Vorhersage von Käuferverhalten.
Du hast zwei Startups gegründet: DeepArt und Layer 7. Inwiefern setzt du dort deine Forschung in die Praxis um?
2015 haben wir ein neues Verfahren entwickelt, welches mit Hilfe von neuronalen Netzen erlaubt, beliebige Fotos in den Stil von Kunstbildern umzuwandeln. Um dieses Verfahren einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, haben wir Anfang 2016 DeepArt gegründet. Mitte 2018 haben wir Layer 7 als ein weiteres Spin-off aus meiner Arbeitsgruppe gegründet, um sehr gute Forscher des Maschinellen Lernens zur Beratung von Unternehmen einzusetzen.
Du bist seit einem Jahr Amazon Scholar. An welcher Fragestellung arbeitest du dort konkret?
Ich baue dort zusammen mit Bernhard Schölkopf, Thomas Brox, Peter Gehler
und Yasser Jadidi das AWS-Lablet auf. Dabei handelt es sich um ein Forschungslabor, das Spitzenforscher des Maschinellen Lernens zusammenbringt, um an besonders herausfordernden Fragestellungen zu arbeiten. Unser bisheriges Ziel ist es vor allem, das unüberwachte Lernen voranzubringen und Maschinen ein möglichst generelles Verständnis von Objekten beizubringen.
Was reizt dich an der Arbeit bei Amazon?
Ich glaube, das Amazon eine ganz wichtige Bereicherung für das Cyber Valley ist. Der Transfer von Forschungsergebnissen in die Wirtschaft ist eine große Herausforderung. Universitäten fehlt weitgehend die nötige Infrastruktur und die Ressourcen, um marktfähige Produkte zu entwickeln und das Risiko von solchen Entwicklungen zu tragen. Zum einen kann ich dort viel lernen. Zum anderen ist Amazon ein ganz wichtiger Bestandteil für den Aufbau eines reichhaltigen Ökosystems, bei dem ein enger Austausch zwischen Grundlagenforschung und Wirtschaft stattfindet und es spannende nicht-akademische Stellen für unsere Doktoranden gibt.
Du bezeichnest dich selbst als „Protopian“, auf Deutsch „Protopist“. Was ist das und warum bist du einer?
Ein „Protopian“ ist jemand, der sein Tun von dem Ziel ableitet, die Welt möglichst lebenswert zu machen – in kleinen Schritten. Im Unterschied zum „Utopian“, also dem Utopisten, legt sich der Protopian nicht auf ein besonders erstrebenswertes, aber oft unerreichbares Ziel fest. Ich habe keine utopischen Vorstellungen, was KI leisten kann und soll, aber ich habe starke Intuitionen, welche Verbesserungen schrittweise möglich sind.
Beschäftigst du dich privat auch mit KI oder was machst du sonst gerne, wenn du mal Zeit hast?
Wissenschaft nimmt man überall mit hin, auch in die Freizeit. Aber ich bin noch kein Cyborg und habe auch ganz analoge Hobbies, wie zum Beispiel Gitarre spielen, Windsurfen oder Tanzen.
Matthias Bethge, Jahrgang 1973, studierte Physik und Mathematik in Göttingen und promovierte 2003 mit einer Arbeit über „Codes and Goals of Neuronal Representations“. Danach forschte er als Postdoktorant am Redwood Neuroscience Institute in Menlo Park, Kalifornien, bevor er 2005 ans Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik nach Tübingen kam. 2006 wurde er mit dem „Bernstein Preis für Computational Neuroscience“ ausgezeichnet. Seit 2009 ist Matthias Professor für Computational Neuroscience an der Eberhard Karls Universität Tübingen.