Erstens kommt es anders. Und zweitens als man denkt. Das haben die Wissenschaftler vom Amazon Forschungszentrum in Tübingen im November 2019 hautnah miterlebt. Aus einer Veranstaltung für andere Forscher und Studenten wurde ein Open-House-Event. Aus 70 wurden 200 Gäste. Und aus einer Idee wurde eine neue Abteilung: das „Lablet“ – es ergänzt die KI-Forschung von Amazon in Tübingen mit einem neuen Ansatz.
1926 veröffentlichte der russische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew seine Theorie der „Langen Wellen“. Seine These: Wirtschaftlicher Auf- und Abschwung reihen sich alle fünfzig bis sechzig Jahre wellenartig aneinander. Ursächlich seien Basisinnovationen, wie etwa die Dampfmaschine und Elektrizität, die das Wirtschaften grundlegend veränderten. Seit 2019 blicken wir auf fünf abgeschlossene Kondratjew-Zyklen zurück. Und der Blick nach vorn? Der sechste Zyklus steht kurz bevor. Welche Basisinnovation ihn prägen wird, steht aktuell zur Debatte. Im Gespräch sind das Internet der Dinge, Biotechnologie, Kernfusion – und auch Künstliche Intelligenz (KI).
Wenngleich KI mittlerweile ein Buzzword ist, haben viele Menschen keine Vorstellungdavon, was „diese KI“ ist und kann. Spoiler Alert: Die, die es eigentlich wissen müssten, nämlich die Wissenschaftler am Amazon Forschungszentrum in Tübingen, sind sich auch noch nicht ganz sicher. Denn KI-Forschung steht noch am Anfang. Dennoch gaben sie Ende November anderen Forschern, Studenten, Interessierten, Gemeinderatsmitgliedern und Pressevertretern an mehreren Poster-Stationen Einblick in ihre Projekte. Im Fokus: Themen wie Bildoptimierung, Super Resolution, 3D-Scan-Technologie und Kausalität.
Was als Veranstaltung für die Wissenschafts-Community in Tübingen gedacht war, wurde aufgrund des großen Interesses kurzerhand eine Open-House-Veranstaltung. Theresia Bauer, die baden-württembergische Landesministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst, eröffnete das Event und ging dabei durchaus kritisch auf das Thema KI ein. KI ist nicht unumstritten, ebenso wie Amazons Bemühungen in diesem Bereich und die Präsenz des Unternehmens in Tübingen. Erst kürzlich hatte der Gemeinderat dem Verkauf eines Grundstücks im Cyber Valley mit großer Mehrheit zugestimmt.
Amazon forscht bereits seit Anfang 2018 in Tübingen und plant, in den nächsten Jahren von aktuell 30 auf insgesamt 100 Mitarbeiter zu wachsen, die ab 2021 in einem neuen Gebäude arbeiten werden. Ministerin Theresia Bauer sieht darin eine Chance: Das einmalige gesellschaftliche Umfeld in Tübingen kann zu einem Denken, das die Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Fokus stellt, ermahnen. Bernd Engler, Rektor der Universität Tübingen, untermauerte dieses Potenzial – und betonte darüber hinaus, dass der Wissenschaftsstandort Tübingen von einem weiteren Player im Bereich KI profitiere.
Besonders groß war das Interesse der Besucher an Amazons „Lablet“. Dabei handelt es sich um eine Ende 2019 gegründete, eigenständige Abteilung für KI-Grundlagenforschung. Das Konzept ist einfach, aber für die Forschung eines Unternehmens ungewöhnlich: Anders als klassische Abteilungen für Forschung und Entwicklung, untersuchen die Wissenschaftler des Lablets Themen, für die sie sich aus explorativer Neugier heraus interessieren und die faire, transparente und erklärbare KI erforschen. Die Abteilung steht für eine neue Kultur des Austauschs: Forschungsergebnisse, Codes und Datensätze werden offengelegt und wissenschaftlich publiziert. Reproduzierbarkeit und Transparenz sind grundlegende Maximen. Damit ist das neue Lablet alles andere als ein Elfenbeinturm: Es wird Projekte gemeinschaftlich mit externen Forschern und Studenten durchführen. Dafür wird der Neubau ausreichend Raum bieten: neben neuen Büroräumen und Labors sind auch Veranstaltungsflächen, ein Co-Working-Space und ein Café vorgesehen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lablets setzen sich dafür ein, dass KI der Allgemeinheit dient, indem sie vor allem an der Erklärbarkeit von KI arbeiten werden – und findet in diesem Streben Unterstützung. Bernhard Schölkopf, Direktor am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, ist Schirmherr des Lablets. Vor diesem Hintergrund wird die Basisinnovation, die den sechsten Kondratjew-Zyklus prägen wird, vermutlich nicht aus dem Lablet in Tübingen kommen. Aber vielleicht wird eines der Forschungsprojekte irgendwo auf der Welt für so viel Inspiration und Neugier sorgen, dass daraus etwas komplett Neues entsteht.