Verändern E-Books die Buch- und Lesekultur? Und wenn ja, wie? Diese Frage beschäftigt Marah Woolf, seit sie vor sieben Jahren von einem auf den anderen Tag zu einer erfolgreichen Bestseller-Autorin wurde. Die ehemalige Bankangestellte war 39 Jahre alt, als sie ihren ersten Fantasy-Roman schrieb und über Kindle Direct Publishing als E-Book selbst veröffentlichte. Das war 2011. Zuvor hatte sie zwei Jahre lang einen Print-Verlag gesucht, der ihr Erstlingswerk publizieren würde – vergeblich. Innerhalb von drei Monaten kletterte ihr Debutroman bei Amazon in die Top 100 der Bestseller – und tummelte sich damit plötzlich in prominenter Gesellschaft von klassischen Verlagsbüchern bekannter Autoren. Marah Woolf fing Feuer. Auch ihr zweiter Roman wurde ein Publikumsliebling. Angespornt von den begeisterten Zuschriften und Rezensionen ihrer Fans kündigte die Magdeburgerin ihren damaligen Job und widmete sich voll und ganz dem Schreiben. Ihr Erfolg als selbst publizierende Autorin diente schließlich auch als Eintrittskarte in die Welt der klassischen Verlage.
Aus der Idee, die Autoren und die Leser direkt zusammenzubringen, entstand in den USA im Jahr 2008 Kindle Direct Publishing (KDP). Anders als bei der Veröffentlichung in einem klassischen Verlag wird beim Self Publishing bewusst keine Vorauswahl der Werke getroffen. Plamen Petrov, Head of Kindle Content Germany, ist von der Kraft der kollektiven Intelligenz überzeugt: „Einzelne können nicht besser entscheiden als hunderte oder tausende Leser. Und das tun sie durch ihr direktes Feedback ohne Umschweife. Manche Werke erhalten auch mal negative Bewertungen und Rezensionen. Auf der anderen Seite werden aus Lesern treue Fans und aus Schriftstellern erfolgreiche Top-Autoren wie Marah Woolf und Tausende andere. Ihre faszinierenden Geschichten wären von einem klassischen Verlag womöglich nie gedruckt und damit nie gelesen worden“.
Eine Erfolgsgeschichte mit Hindernissen
Eigentlich hatte sie sich selbst nicht für besonders kreativ gehalten. Doch von einem auf den anderen Tag packte es sie. Ein Jahr lang schrieb Marah an der Geschichte der schicksalhaften Liebe zwischen Emma und Calum. Sie handelt von der jungen Amerikanerin Emma, die nach dem Tod ihrer Mutter plötzlich auf sich alleine gestellt ist. Emma zieht zu einem Onkel nach Schottland, ein Land, welches Emma wie das Ende der Welt erscheint. Auf der Isle of Skye angekommen, verliebt sie sich in den geheimnisvollen Calum. Doch Calum ist kein Mensch. Er ist ein Shellycoat, ein Wassermann, der nur für kurze Zeit unter Menschen lebt, bevor er ins Wasser zurückkehrt, um dort sein Volk anzuführen.
„Anfangs schrieb ich heimlich abends auf dem Dachboden, wenn meine drei Kinder schliefen. Nach einer Weile fragte mich mein Mann, was ich eigentlich da oben so treibe. Ich sagte: ‚Ich schreibe ein Buch!‘“, erinnert sich Marah. Sie nannte ihr Buch „MondSilberLicht“.
Fast wäre es nie an die Öffentlichkeit gelangt. Marah schickte ein Exposé nach dem anderen an verschiedene Verlage – doch kein einziger war bereit, ihr die Tür zu den potentiellen Lesern zu öffnen. Resigniert wandte sich Marah vom Schreiben ab, bis sie 2011 durch Zufall vom Start von Kindle und Kindle Direct Publishing in Deutschland (KDP) erfuhr. Der neue Service von Amazon ermöglichte es nun auch Autoren in Deutschland, ihre Werke ganz einfach selbst zu veröffentlichen. Marah lud „MondSilberLicht“ auf der Webseite von KDP hoch und wartete gespannt ab, was passieren würde.
Die Leser sind die treibende Kraft
Schon nach kurzer Zeit bekam sie tausende Leserzuschriften und -rezensionen. „Dieses direkte und positive Feedback der Leser bestätigte mich endlich in meinem Gefühl, dass die Geschichte von Emma und Calum nicht nur mich, sondern auch eine große Leserschaft begeistern würde“, sagt Marah. „Vielleicht hat ein E-Book nicht den Glamour eines gedruckten Buchs, das man in der Hand halten und in ein Regal stellen kann. Aber ohne die neue Chance, meinen ersten Roman online selbst zu veröffentlichen und auf diesem Weg meine Leser zu erreichen, hätte ich mit Sicherheit kein zweites, drittes oder viertes Buch geschrieben“. Der persönliche Kontakt zu ihren Lesern und Fans spornt Marah an. Täglich beantwortet sie Leserfragen im Internet – ob auf ihrer Website, bei Amazon oder in den sozialen Medien. Natürlich stellt auch Marah eine Veränderung der Buch- und Lesekultur durch die Mitsprache und die Erwartungen der Leser fest, insbesondere was das Tempo der Veröffentlichungen angeht. „Die Fans verlangen immer schneller nach einer Fortsetzung, nach neuem Lesestoff“, sagt sie lachend, „und die Veröffentlichung geht online ja auch viel schneller als bei klassischen Verlagen“. Seit ihrem ersten Erfolg schreibt Marah ein Buch nach dem anderen. Und auch nach sieben Jahren wird jedes einzelne von ihren Lesern sehnsüchtig erwartet.
„Egal ob als gedrucktes Buch, als E-Book oder als Hörbuch – die Menschen sollen lesen. Denn wir alle brauchen Geschichten, um zu leben."
Den Leser da abholen, wo er sich aufhält
Weniger enthusiastisch ist die allgemeine Stimmung im deutschen Buchhandel. Laut einer Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, die im Januar 2018 erschien, hat die Buchbranche seit 2012 circa sechs Millionen Buchkäufer verloren, vor allem in der jüngeren bis mittleren Altersgruppe. Damit geht nicht nur ein Verlust der Lesefähigkeit, der Auseinandersetzung mit Inhalten und somit der Bildungschancen einher. Es geht auch ein wichtiges Stück Kultur verloren. Es stellt sich die Frage: Wenn die Menschen seltener in den Buchladen gehen, wo gehen sie dann hin? „Bücher konkurrieren heutzutage mit einem großen Angebot an Videos, Spielen und Content im Internet. Wenn wir also wollen, dass Menschen wieder mehr lesen, müssen wir sie dort abholen, wo sie sich aufhalten“, so Plamen. Ausschlaggebend für eine effektive Förderung des Lesens ist für Plamen, die unterschiedlichen Vorlieben der Leser in den Mittelpunkt zu stellen: „Entscheidend ist, den Lesestoff individuell und formatübergreifend anzubieten: Die Print-Ausgabe für diejenigen, die ein Buch zum Anfassen lieben und es in ihre Bibliothek stellen möchten. E-Books für diejenigen, die gerne unterwegs, in der U-Bahn oder im Urlaub lesen und nicht eine ganze Tasche voll mit Büchern mitschleppen möchten. Und Hörbücher für diejenigen, die bei einer Autofahrt erfahren möchten, wie die Geschichte, die sie abends im Bett vorm Einschlafen auf ihrem E-Reader angefangen haben, weitergeht“. So sieht es auch Marah, die seit 2017 ihre Werke auch als klassische Printbücher in renommierten Verlagen veröffentlicht: „Eins wollen wir alle: Die Menschen sollen lesen. Denn wir brauchen Geschichten, um zu wachsen, zu lieben und zu leben“.